Zwischen Wörrstadt und Ensheim an das Alzeyer Straße liegt in ziemlich einsamer Gegend die Flurgewann "Wachwendel". Dort befindet sich eine kleine Talsenkung, in der es nicht recht geheuer sein soll. Wer um Mitternacht oder Mittags zwischen 12 und 1 Uhr dort vorüberkommt, der hüte sich, einen Diebstahl oder einen sonstigen Feldfrevel zu begehen. Denn an jener Stelle folgt die Strafe unmittelbar auf die böse Tat. Dafür sorgt niemand anders als das "Kutschar" im Wachwendel.
Es ist schon öfter vorgekommen, daß in Zeiten, da das Futter rar war, in den "Untern", das heißt zwischen 12 und 1 Uhr Mittags, wenn nur wenige Leute im Felde arbeiteten, kleine Diebstähle an Futter- und Getreideäckern verübt wurden. In solchen Fällen hörte der Frevler bald einen leisen Warnungsruf aus der Luft, und wenn er nicht sofort von seinem Vorhaben abließ und nach Hause eilte, kam ein unförmiges Etwas ohne Kopf, wälzte sich ihm auf den Nacken, blieb dort sitzen und entfernte sich erst, wenn der Missetäter wieder in die Nähe menschlicher Wohnungen gelangte. Schlimmer noch erging es denen, die den Warnungsruf unbeachtet ließen oder eine freche Antwort erteilten: In solchen Fällen drehte das Kutschar dem Übeltäter den Hals um.
Ein übermütiger junger Mann aus Wörrstadt war einst zur Zeit des Nachherbstes in Ensheim zu Besuch gewesen. Da er dem neuen Wein mehr als gut war zugesprochen hatte, ging sein Heimweg in fröhlichster Weinlaune von statten. Als er an die gefährliche Stelle im Wachwendel kam, schlug es gerade 12 Uhr. Statt mit einem Vaterunser auf den Lippen seines Weges weiter zu gehen, ließ er seiner losen Zunge freien Lauf. Um als besonders tapfer zu gelten, höhnte er das Kutschar mit dem Rufe: "Kutschar komm, Kutschar komm!" Sofort kam das unförmige Wesen herbei und fuhr dem weinseligen Burschen auf den Nacken. Ängstlich griff dieser nach dem Ungetüm, das wie Blei auf ihm saß. Doch vergebens suchte er es los zu werden. Wie von Entsetzen gejagt, eilte er in der Richtung nach Wörrstadt weiter, ohne daß ihn das Ungetüm locker gelassen hätte. Erst als die Lichter der ersten Häuser in Sicht kamen, verschwand die unheimliche Last. Niedergeschlagen und abgehetzt kam er nach Hause, — die Lust, das Kutschar zu verspotten, war ihm aber für immer vergangen.
Ein andermal wollte ein geiziger Bauer bis in die späte Nacht hinein auf seinem Felde arbeiten. Schon standen die Sterne am Himmel, als der Bauer immer noch pflügte. Todmüde zog der Gaul den Pflug im Schein des Mondlichts hinter sich her, der Geizhals wollte immer noch nicht nach Hause kehren. Plötzlich ertönte eine Stimme aus der Höhe, erst leise, dann lauter und immer drohender: "Henk ab, henk ab!" Da verlor der Geizkragen den Mut, spannte das Pferd vom Pflug und führte es eiligst nach seiner Hofreite und in den Stall.
Am schlimmsten ging es im folgenden Falle zu: Drei Wörrstädter Bauern fuhren einst in den Wald, um Holz zu holen. Als sie in der Morgenfrühe im Wachwendel waren, kam es dem jüngsten in den Sinn, das Kutschar zu verhöhnen. Das hätte er aber besser nicht getan. Denn als die drei am Abend auf der Rückfahrt wieder durch den Wachwendel mußten, nahte sich gerade die Geisterstunde. Da erinnerte sich der Spötter vom Morgen plötzlich seiner frechen Worte. "Halt!" rief er seinen Genossen zu "ich fürchte mich vor dem Kutschar! Deckt mich mit ein paar Reisigwellen zu, daß es mich nicht sehen und mir nichts an tun kann!" Da versteckten die beiden andern den Jungen unter dem Reisig und fuhren, ohne ein Wort zu sprechen, nach Hause. Als sie daheim ankamen und nach ihrem Begleiter sahen, lag er regungslos auf dem Wagen: Er war tot und gab keinen Laut mehr von sich. Das hatte das Kutschar getan aus Rache für den Spott am frühen Morgen.
Quelle: W. Müller, Rheinhessisches Heimatbuch. Zweiter Teil. Hess. Volksbücher 52-54 (Darmstadt 1924). S.58-S.60